Von der Bibliothekarin, die auf einen Flohmarkt ging und nichts kaufte

Ein Märchen

Samstag, 10 Uhr:  Die eigentlichen Profis des Beutemachens waren schon lange vor uns da, bei Sonnenaufgang. Auch ich sehe dem Geschehen gelassen entgegen. Schließlich bin ich beruflich vorbelastet und ausgebildete Ausmist-Fachkraft. Ich habe aus Erfahrung kein Geld mitgenommen und weiß dass ich nichts kaufen werde.  Oder falls überhaupt, dann nur nützliche Kleinigkeiten, die ich wirklich brauche.

In einer riesigen Halle findet man modische Kleidung aus allen Jahrzehnten ordentlich aufgehängt und geschlichtet. Ich schlendere an ein paar Ständen vorbei und halte mir aus reiner Höflichkeit ein paar Kleider unters Kinn, die mir, rein theoretisch sehr gut stehen könnten, aber schießlich hat man daheim ja schon und ist eben erst umgezogen..undsoweiter undsoweiter und so winke ich freundlich ab.

Zu meinem Erstaunen finde ich in meiner Tasche doch noch etwas Geld, und investiere es sinnvoll in die erste Mahlzeit des Tages und ein Erfrischungsgetränk.
Wenig später kehre ich gestärkt zurück in die Kleiderhalle und kaufe doch noch die zwei Kleider, sie stehen mir einfach und kosten auch fast nichts, und schließlich ist es für den guten Zweck. Bei dem Versuch meine Jacke wieder anzuziehen schlüpfe ich völlig aus Versehen in einen hinreißenden dunkelblauen Blazer, der mich aussehen lässt wie eine Star-Dirigentin.
Ich behalte ihn gleich an.
In den Umziehpausen findet in der gemeinschaftlich genutzten Umkleidekabine qualifizierte gegenseitige Beratung statt. „Ist das nicht zu kurz?/zu eng/zu weit/zu bunt?“  – „Ach was, Sie können das doch tragen! Steht Ihnen ausgezeichnet.“.

Beglückt über meine gezielte Auswahl gönne ich mir eine weitere Pause am Kuchenbuffet, und bin froh dass ich meinen Beitrag zum Flohmarktumsatz schon jetzt zufriedenstellend geleistet habe. Die anderen Abteilungen werde ich mir wahrscheinlich gar nicht ansehen, und den Rest des Tages lieber auf einer Bierbank lesen und die Sonne genießen.

Da ich doch überraschend noch ein paar Münzen in meinen Taschen finde, kaufe ich in der nächsten halben Stunde noch schnell ein paar Strickkleider, Röcke und Blusen, ein Dirndl sowie ein Ballkleid, das ich unter allgemeiner Publikumsberatung vor dem großen Spiegel anprobiere.
Ich verstaue alles in dem praktischen Rattan-Zeitungsständer, der sich irgendwo zwischen den letzten beiden Erfrischungspausen zu meiner Beute gesellt haben muss.  Um ehrlich zu sein befinden sich inzwischen auch zwei drei unbekannte Textilien darunter, die jemand anderer dort hinein gelegt haben muss. Da sie mir aber gefallen und auch im Budget Platz haben, kaufe ich sie kurzerhand, schließlich ist es für den guten Zweck.

Derart beflügelt wage ich einen Vorstoß in weitere Abteilungen: Accessoires, Sport und Spiele. Im Untergeschoß entdecke ich einen zauberhaft altmodischen Kinderwagen aus den 50er Jahren, der sich hervorragend als dekoratives Beet für meine Kräuterstöcke eignen würde. Als ich ihn siegessicher zum Ausgang schieben will, bremst mich die empörte Mutter.
Um mich über die erlittene Enttäuschung hinwegzutrösten kaufe ich zu meinem Anzug zwei passende Krawatten, von denen ich mir eine sofort umbinde.

Während ich mit Umstehenden über Krawattenknoten fachsimpele, hat eine rüstige ältere Dame meine eigene Windjacke gekauft und sich mit ihr aus dem Staub gemacht. Glücklicherweise kommt sie nur bis zum Ausgang, wo eine Gruppe reizender Kinder eine Festung aus alten Holzrodeln und Skistöcken errichtet hat. Ich stelle die Dame am Eingang,  erwerbe meine eigene Jacke um 20 Euro zurück und freue mich über mein Verhandlungsglück.

Inzwischen ist es viertel vor Bier und Zeit für eine weitere Pause.

Im Obergeschoss warten noch Schmuck und Antiquitäten. Kitschige Mariendarstellungen und christliche Sinnsprüche drohen kapitalistischen Sündern von der Wand herab mit dem Schlimmsten, und am Ende des Ganges lauert das für mich gefährlichste Ressort: Bücher.
Aus rein fachlichem Interesse fühle ich mich aber doch verpflichtet wenigstens einen kurzen Blick auf die angebotenen Bestände zu werfen. Nach einer leidenschaftlichen Diskussion über den Sinn und Wert gedruckter Lexika kaufe ich um ein paar Cent Klaviernoten und das Buch „Katholische Sexualmoral und psychische Störungen“.  Als Draufgabe bekomme ich den Bestseller „100 neue entzückende Ideen aus Salzteig“ gratis dazu. Ein gutes Dutzend weitere Bücher lese ich (wie alle hier) im Vorbeigehen einfach quer, ohne sie zu kaufen.
Meine Begleitung kauft sich eine alte Olympia-Schreibmaschine. Sie produziert ein äußerst solides Geräusch, ungefähr so als würde ein Elefant aus hoher Höhe in einen Container voller Videokassetten springen. Hinzutretende Passanten loben die Akustik und spenden spontan Beifall.

16 Uhr: Ich bin gut in Fahrt und habe sämtliche Hemmungen abgelegt. Erbittert feilsche ich gegen mehrere Interessenten um einen Kerzenständer. Mithilfe eines kürzlich erworbenen Regenschirms verschaffe ich mir Respekt und Platz am Tresen, und gehe schließlich siegreich aus den Verhandlungen hervor. Hier geht es schließlich um die gute Sache.

An den Kleidertischen spielen sich inzwischen dramatische Szenen ab, da der reduzierte Schlussverkauf begonnen hat. Die Grenzen zwischen „Mein“ und „Dein“ verschwimmen zusehends in einem Gefühl von gütiger Gelassenheit. 
Auf dem Weg zur Schmuckabteilung zeigt ein Mann Interesse an meiner Krawatte. Ich nenne einen astronomischen Phantasiepreis und murmele etwas von „Familienerbstück“, überlasse ihm aber gnadenhalber meinen Regenschirm. Innerlich hoffe ich dass der Gott der Kapitalismus nicht wirklich „ALLES sieht!“, wie es auf den zahlreichen Heiligenbildern im Hintergrund verkündet wird.
Im Obergeschoß geht derweil das Gerücht von jenem Mann, der sein Bild stolz zurückerwerben konnte, das er vor gut 10 Jahren selbst hier zum Verkauf geboten hat. Es ist alles ein ewiger Kreis. 

Die letzten Minuten sind angebrochen, und die Preise werden nochmals reduziert. Stolz über meine stoische Zurückhaltung beschließe ich nur noch ein paar absolut notwendige Anschaffungen zu tätigen, und es dann endgültig gut sein zu lassen. Als absolut notwendige Anschaffung erweisen sich eine Küchenwaage, mehrere Blumentöpfe und eine lebensgroße Statue des heiligen Antonius, Schutzpatron der verlegten Sachen und der maßlosen Bibliothekarinnen. Ein paar weitere Bücher, ein mittelalterlicher Waffengurt, geschnitzte Messerbänkchen und ein Puzzle mit 1000 Teilen wandern ebenfalls in einen Picknickkorb, den ich gegen den heftigen Widerstand des Verkäufers gnadenlos auf den mir angemessen scheinenden Preis hinaufhandele. Um ihn nicht zu Verärgern lasse ich mir einen Springbrunnen und einige alte Fernseher schenken.  Im Hinausgehen klemme ich mir noch ein Aktenkarussell und mehrere wichtig aussehende Stempel unter den Arm. Ich verstaue alles vorsichtig in einem gewaltigen antiken Badezuber aus Zinn, bevor ich ihn selbst besteige und mich als Kapitän meiner bunten Fracht von der ausgebrochenen Schlusshektik zum Ausgang tragen lasse.

Draußen warten schon die beiden LKWs.