Um die trockene Rechtsmaterie zu durchdringen, sollen Studierende möglichst früh und möglichst viele Rechtsfälle lösen, und dieses Prinzip gilt im Wesentlichen auch heute noch so, auch wenn sich die Studienliteratur an Art und Stil immer wieder stark geändert hat. Eine Rückschau zeigt gewisse Themenschwerpunkte, aber auch was man über die jeweilige Zeit aus der Fallgestaltung herauslesen kann.
Arbeit und Geld
Arbeiter und Angestellte sind die Darsteller dieses umfangreichen Genres: Je älter der Fall, desto eher gehen Szenarien von schwerer körperlicher Tätigkeit, wie etwa typischer Fabrikarbeit in einer Werkshalle aus. Im gehobenen Management gibt es dagegen haufenweise Prokuristen, die im Namen oder hinter dem Rücken des Eigentümers krumme Dinger drehen. Die Instrumente dieser Betrügereien (Wechsel, Scheck, Schuldschein), sind heutigen Studierenden nur noch peripher geläufig und lösen allenfalls erstauntes Kichern über veraltete Analogwelten aus. Hier bleibt viel Platz für Nostalgiegefühle. Ein klassischer Frauenberuf, der hier noch auftaucht, ist jener der Stenotypistin.
Freuden und Leiden des Straßenverkehrs
Der Straßenverkehr des Rechtsfalles gleicht einem Wimmelbuch für Kinder: Hier werden fröhlich Straßenbahnschienen gekreuzt, Unfälle gebaut und Schutzmänner beschumpfen (oder beschimpft?), und die Delinquenten sind auch selten echte Verbrecher, sondern vielmehr „freche“ Schurken, die „Ränkeschmiede“ treiben, Streiche „aushecken“ oder denen von der Erzählung anderweitig geminderte Schuldfähigkeit zugestanden wird. Man sieht, dass die CO2-Sünden der Gegenwart und diverse Diesel-Skandale der PKW Branche noch in weiter Ferne lagen, und das Auto als Statussymbol des Automobilisten (idR also des Mannes) und Wertgegenstand noch in seinem vollen Glanze erstrahlt. Liest man Fälle aus dieser Zeit, fällt jedenfalls auf, dass die Automobilbranche hier zu „den Guten“ gehört.

Eheleute
Die Ehegemeinschaft des Rechtsfalles bleibt für lange Zeit tief in den 50er Jahren verhaftet und schert sich nicht groß um moderne Geschlechterrollen: Frauen treten maximal als Hausfrau, Sekretärin und Hofratsgattin in Erscheinung, und von Männern scheint es überhaupt gleich nur 2 Sorten zu geben: Beamte und Handwerker. Die Frau sorgt sich also auch in aller Regel um ihre Schönheit (Fortkommen), gekauften Schmuck und Kleidung (Gewährleistung), sie ärgert sich über teure Handwerkerrechnungen (Werkvertrag), die Erziehung der Kinder und die Treue ihres Mannes (Ehe- und Kindschaftsrecht), der zumindest im letztgenannten Bereich verschuldensmäßig die tragende Rolle spielt. Immer wieder ernsthafter Gegenstand von Kontroversen ist die Höhe des Haushaltsgeldes, das der Mann seiner Frau zugesteht, um die ganzen Perlenketten, Pausenbrote für die Kinder und Handwerkerrechnungen zu bezahlen.
Als Dreh- und Angelscheibe des amourösen Kennenlernens dient (Sie ahnen es): Die Tanzstunde.
Auch Heiratsschwindler und geldgierige Vormünder entspringen wie einem Groschenroman von E. Marlitt und bevölkern das Universum des Rechtsfalles. Das Grundszenario des untreuen Ehegatten, der die einkommenslose Frau nach aufgeflogener Affäre mit den Resten der Familie sitzen lässt, wird erst in den Fallsammlungen der 80er und 90er Jahre zunehmend aufgeweicht; hier treten erstmals auch ehebrüchige Frauen auf. Sie wollen dann auch selbst Auto fahren, Geld ausgeben und arbeiten, und sorgen für reichlich Trouble im harmonischen Rechtsfall-Haushalt. Na endlich!


Der Bauer und das liebe Vieh
Am erstaunlichsten an alten Fällen mutet für heutige Studierende sicher die Bedeutung der Landwirtschaft an. Hier bewegen wir uns in einem Universum, das in der Rückschau wie eine Mischung aus Musikantenstadl, Villacher Fasching und dem Bergdoktor wirkt, wo Kühe entweder trächtig oder siech sind, Pferde beim Transport in Gletscherspalten fallen, und wilde Eber als grobkörperliche Emissionen auftauchen.
Der Fall in der Gegenwart
Auch in jüngeren Zeiten haben sich AutorInnen am Genre des „Falles“ bedient, vielfach in humoristischer Weise, in Form von Karikaturen, oder wie bei Welser et al (Käsegeruch, Das Klopapier im österreichischen Recht), wo es eher klamaukig zugeht und „heiteres Bezirksgericht“ gespielt wird. Ernster wird es in der Kriminalliteratur, wo Ferdinand von Schirach es mit seiner breiten Palette von Krimis (Schuld, Tabu, Verbrechen) in den Olymp der heutigen Jugendlichen geschafft hat: Er hat eine eigene NETFLIX Serie mit Moritz Bleibtreu bekommen,
Ein Buch für Feinschmecker wiederum ist DER FALL ROTKÄPPCHEN – Juristisches Gutachten über die Umtriebe der Gebrüder Grimm, der die Geschichte über das Rotkäppchen in schönstem juristischen Beamtendeutsch seziert. Wer wissen möchte, ob am Wolf Körperverletzung begangen wurde, und welche Verwaltungsübertretungen Rotkäppchen am Weg in den Wald sonst noch begangen hat, der findet hier großes Lesevergnügen. Auch andere Märchenfiguren werden juristisch verhandelt (Schneewittchen), wenngleich soziologische Fragestellungen (was ist das eigentlich für eine seltsame Wohngemeinschaft, die diese sieben alleinstehenden Männer da im Wald führen..?) weitgehend ungeklärt bleiben müssen.
„Nur Piepstöne“ – Die Tücken der Technik
In dieser Kategorie hat sich am Wenigsten geändert, was uns irgendwie beruhigen muss: Damals wie heute, nichts als Ärger mit der Technik!
(nur die Medien des Ärgers ändern sich von Zeit zu Zeit)
Rechtsfälle aus dem Recht der Schuldverhältnisse/Demelius 1932
Der praktische Rechtsfall/Bestgen 1955
Bürgerliches Recht in Fragen und Antworten/Kuzmany 1985
Rechtsfälle, Linksfälle – juristische Phantasien/Herbert 1966
Schirach/Der Fall Collini 2017
Die ZEIT, Verbrechen, Echte Kriminalfälle aus Deutschland
Der Fall Rotkäppchen,
juristisches Gutachten über die Umtriebe der sittenlosen Helden der Brüder Grimm, zur Warnung für Eltern und Pädagogen