Buchverschleiß – ein medizinisches Compendium für die bibliothekarische Praxis

Schon immer hat es mich gereizt, eine kleine Studie anzulegen, dazu wie und an welchen Stellen Bücher kaputt gehen, die man häufiger und länger benutzt. Lehrbücher und Kommentare in einer Unibibliothek sind ein ausgezeichnetes Patientenkollektiv für eine solche Studie: Sie werden stark beansprucht, von zahlreichen Studierenden gelesen, durchgeblättert, darüber hinaus werden sie täglich zahlreiche Male herumgeräumt und zurück ins Regal gestellt. Lehrbücher und Kommentare sind die Hochleistungssportler unter den juristischen Büchern.
Here we go.

Karies

Glauben Sie Ihrem Zahnarzt (und Ihrem Bibliothekar): Karies beginnt schleichend. Eine kleine Stelle erst, wo sich der Belag ein wenig an der Oberfläche wölbt, unmerklich abnutzt, Rillen entstehen und Bakterien eindringen können (hier erst bei sehr genauem Blick außen und oben am Rand zu erkennen). Zu diesem Zeitpunkt ist medizinisch noch alles offen: Mit regelmäßiger Pflege und sorgsamer Behandlung kann man so etwas noch gut in den Griff bekommen. Auf die leichte Schulter nehmen sollte man es aber nicht.

Besenreißer

Jeder kennt das: Unschöne Besenreißer oder auch Cellulite an der Oberhaut gehören zu den häufigsten Verschleißerscheinungen, die anzeigen, dass das Buch schon eine längere Lebensspanne im Bestand auf dem Buckel hat, auch können sie im Verlauf eines langen Buchlebens immer wieder einmal auftreten. Auch hier ist noch nicht gleich Panik angezeigt, mit konservativen Maßnahmen wie einem stützenden Tixofilm oder einer Bandstärkung an den neuralgischen Punkten sollte aber nicht zu lange zugewartet werden. Dann ist die Prognose gut.

Sportverletzung

Kurz im Regal an die Eisenkante des Fachbodens gestoßen oder beim hurtigen Rückstellen eins auf den Deckel bekommen, auch ein Sturz aus hoher Höhe kann dramatische Folgen haben: Die Sportverletzung sieht beeindruckend aus, weil Prellungen sich meistens unmittelbar am Buchrücken zeigen. Manchmal lösen sich Teile des Einbandes, und geben das kartonierte Innenleben preis. Die Eingeweide des Buches quellen einem quasi regelrecht entgegen, da braucht es starke Nerven! In aller Regel kann man hier aber Entwarnung geben: Bücher mit Prellungen sollten geschont werden, in dem man sie einige Tage dem Bestand entzieht und die zentrale Verletzung behandelt. Stabilisierende Maßnahmen und eine schonende Behandlung können auch noch mit einfachen Hausmittelchen durchgeführt werden, in schwereren Fällen muss ein Spezialist (der Buchbinder) ran. Nach Ausheilen der Verletzung können solche Bücher wieder am Buchverkehr teilnehmen.

Es wird ernst: Bandscheibenvorfall

Besonders ältere und übergewichtige Kommentare, die schon in die Jahre gekommen sind, bekommen gerne Probleme mit der Bandscheibe: Die Ursache für solche Wirbelschäden am Buchrücken ist meist Überbelastung. Sind die Wirbel erst beeinträchtigt, wird das ganze System schnell instabil. Hier gilt es keine Zeit zu verlieren. Kleinere Baustellen können noch konservativ behandelt werden, in schwereren Fällen ist ein operatives Vorgehen unumgänglich.

Ein Notfall: Die Aortenruptur

Jetzt aber schnell zum Arzt: Unter dem Einfluss extremer lokaler Schwerkräfte können schließlich die Wandschichten der Aorta (Hauptschlagader des Buches) einreißen. Die Innenbindung des Buches löst sich, und die Seiten beginnen wild in alle Richtungen zu emittieren. Dies ist ein absoluter Notfall! In solchen Fällen ist unverzüglich eine Klinik (Buchbinderei) aufzusuchen, die buchrettende Notfallmaßnahmen einleiten wird. An zentraler Stelle wird ein Thoraxröntgen zur genaueren Diagnosestellung und Eingrenzung des Schadens durchgeführt, als Therapie der Wahl gilt heute die endobiblionale Platzierung von Prothesen. Die Prognose hängt vom Schweregrad der Verletzung, dem Alter des Buches und dem Buchbindebudget der Bibliothek ab. In der Regel besteht aber Hoffnung auf Heilung.


Die Behandlung: Kurativ oder Operativ

Ob kleinere Schnittverletzungen, Leistenbrüche oder größere Traumata: In Mitleidenschaft gezogene Bücher werden dem Bestand entzogen, und in separaten Behandlungsfächern nach dem Triage-Prinzip zur Behandlung vorstellig gemacht. Hautläsionen an der Oberhaut können mit Hausmittelchen provisorisch behandelt werden, Knochenbrüche werden beim Buchbinder geschient, manchmal kann auch ein kurzer Kuraufenthalt schon Wunder wirken. Bücher, die trotz kurativer oder operativer Behandlung aufgrund ihrer langen Lebensdauer nicht mehr länger im Bestand eingesetzt werden können, werden in Frühpension entlassen: Sie werden stationär in einem der Magazine aufgenommen oder in ambulante häusliche Pflege bei interessierten Lesern überantwortet.

Vielen Dank an dieser Stelle. Bleiben Sie gesund und schalten Sie gerne wieder ein, zu
Dr. Lillis medizinische Bücherrundschau!