Geduld, Verzicht und virtuelle Lernfähigkeit: Die Krise fordert Kompetenzen von uns, die uns in der modernen Konsumgesellschaft ein wenig abhanden gekommen sind.
Gut, wenn wir sie jetzt wieder (re)aktivieren.
Die Geisterbibliothek
Es ist ein wenig der geheime Traum aller Bibliothekare: Einmal für ein paar Tage eine Bibliothek ohne Nutzer haben, einmal in aller Ruhe Ordnung in den Regalen machen, lange liegengebliebene Projekte abschließen und die Zeitschriften ordentlich nachsortieren und sich an ihrem Anblick erfreuen. Letzte Woche wurde dieser Traum auf unangenehme Weise für wenige Stunden wahr, bevor wir unseren Betrieb geordnet geschlossen haben.
Schließung des Lern- und Studienbetriebs
Wie viele Universitäten erreichte auch uns letzter Woche die Nachricht von der schrittweisen Schließung der Bildungseinrichtungen aufgrund der Corona-Welle. Schnell war klar, dass hier größere Veränderungen auf uns zu kommen:
In den ersten Krisensitzungen wurde noch überlegt, welche Services in den kommenden Wochen in einer Art Kompromissmodus ohne Publikum aufrecht erhalten werden könnten und sollen. Ein provisorischer Enlehnbetrieb wurde angedacht, das vermehrte Betreiben der Fernleihe und Einscannen von Artikeln via docdel besprochen.
Gegen Ende der Woche war dann klar, dass nicht nur der Lern- und Studienbetrieb vor Ort geschlossen wird, sondern auch ein Großteil der Lehre auf Distanzlehre umgestellt wird. Die der Universität angeschlossenen Services wie die Bibliotheken wurden bereits Mitte der Woche geschlossen, und das hat einen guten Grund: Bibliotheken sind nun einmal Publikumsbetriebe. Wenn man so will, sind wir im geöffneten Zustand eine permanente Großveranstaltung, und wer einmal gesehen hat wie dicht belegt die Lernplätze in juristischen Lesesälen zur Prüfungszeit sind, braucht keinen Virologen für die Auskunft, dass das keine gute Idee ist. Die Bibliotheken bei gleichzeitigem Schluss der Vorlesungen offen zu halten, hätte also wenig Sinn ergeben.
Viele NutzerInnen haben uns in den letzten Tagen gefragt, warum es nicht möglich wäre dass die Bibliotheken eine Notfall-Buchausgabe machen. Auch wenn der Gedanke nachvollziehbar ist (auch wir haben ihn uns gestellt), so erfordert das Abholen und Ausgeben von Büchern doch immer einen gewissen Kontakt, und letztlich müssen wir auch unsere eigenen Mitarbeiter schützen. Das Problem, dass selbst bei einem strikten Entlehnbetrieb größere Studierendenmengen irgendwo auf einem Haufen auf Ausgabe der Bücher warten, ist logistisch schwer zu lösen, ohne Menschen in Gefahr zu bringen.
In den letzten Tagen haben so gut wie alle Universitätsbibliotheken auch ihren Fernleih- und Scandienst geschlossen: Alles, was die regelmäßige Anwesenheit von Personen erfordert, muss jetzt ruhen.
The last one to go, please turn out the lights..
Bürokratiedämmerung: Die Rechtswelt im Internet
Die Krise hat aber auch Erstaunliches bewirkt und Sachen ermöglicht: Gleich drei große österreichische Rechtsdatenbanken-Anbieter stellten ihre Datenbanken für Studierende im Heimzugriff zu Verfügung und ließen bestehende Downloadlimits fallen. Unsere Lehrenden an der WU brachten in Windeseile zwei Kanäle auf die Füße, auf denen für Studierende in ganz Österreich juristische Fallösung als Live-Vorlesung ins Internet gestreamt wird.
Die Bildungsverlage Duden und Brockhaus machten ihr Programm und Unterrichtsmaterial für den Heimunterricht gratis, der ORF belebt das Schulfernsehen wieder und Ö1 startet einen Bildungskanal für Kinder. Arbeitgeber überdenken ihre kruden Homeoffice Regelungen. Die Türen der U-Bahnen öffnen im Selbstmodus, und Rezepte können von ÄrztInnen am Telefon ausgestellt werden. Ein Abbau von Bürokratie, der erfreut und teilweise Staunen macht.
Auch auf anderen Ebenen muss sich die Technologie, mit der wir arbeiten plötzlich aufmerksamer prüfen lassen: Lange beiseite gelegte Software, die man sich cool und modern für den Ernstfall bereit hielt, macht im Home-Modus plötzlich ärgerliche Probleme. Andere einfache Lösungen, die von vielen gerne genutzt würden (wie ZOOM oder Whatsapp Schülergruppen) sind wiederum vom Datenschutzaspekt her risikoreich und nicht zu empfehlen. Hier wird noch viel zu sondieren sein, was für uns brauchbare Tools sind, und wo die Grenze zwischen Benutzbarkeit und Datenschutz zu verhandeln ist.
Wissen – das unsichtbare Virus
Eines der letzten Bücher in der Vormerkausgabe war Ingrid Brodnigs „Der unsichtbare Mensch“. In den nächsten Tagen werden wir uns alle etwas unsichtbar machen müssen.
Ich schrieb von der Geisterbibliothek, weil von modernen Bibliotheken im geschlossenen Zustand in Wahrheit jede Menge da ist: Es gibt riesige Datenbanken, die auch von zu Hause aus zugreifbar sind, digitale Portale voller ebooks und Artikel, und an nicht wenigen Bibliotheken auch Podcasts, Filme und Spiele im Internet. Die Netzwelt ist riesig, und in Deutschland beginnen schon findige BibliothekarInnen zusammenzutragen, was es alles an spannenden Online-Angeboten gibt. Ich werde hier auch davon berichten.
Das Unsichtbare ist schwierig für uns, und genauso sind auch Statistiken eine Herausforderung für den Menschen: Leider sind die meisten Menschen im Allgemeinen sehr schlecht darin, individuelle und generelle Risiken einzuschätzen. Wir tun uns schwer damit die Gefahr eines Virus für uns abzuschätzen, das eben noch im fernen China war und nun plötzlich Menschenleben in unser umittelbaren Nachbarschaft kosten könnte. Außerdem fällt es Menschen prinzipiell schwer solidarisch zu sein, wenn sie den unmittelbaren Impact einer Handlung nicht spüren können.
Diese Krise fordert Kompetenzen von uns, die uns in der modernen Konsumgesellschaft ein wenig abhanden gekommen sind.
Gut, wenn wir sie jetzt wieder reaktivieren.
Das Gute am Schlechten
Es gibt eine Menge Dinge, die wir in diesen Zeiten tun können, die sinnvoll und nützlich sind, auch als Bibliothek. Vor allem können wir das tun, was Bibliothekare zu allen Zeiten getan haben: Mit gutem Beispiel voran gehen, die Ruhe bewahren und besonnen bleiben, wie weiland William von Baskerville/Sean Connery in der Name der Rose.
Kluge Inhalte sammeln und verbreiten, Beratung über unsere Helpdesks anbieten. Und in unseren Blogs darüber schreiben.
In der Hoffnung dass es nicht gar so weit kommen muss, wie eine bekannte Schauspielerin auf ihrem Instagram Account dieser Tage unbewusst doppeldeutig schrieb:
„Wir werden alle Abstriche machen müssen.“ 🙂
Zum Abschluss zwei Medizinblogs, die ich mag, weil sie klug, bodenständig und lustig sind:
Der KinderDok
Die Pharmama – zu lesen einmal täglich