
Am sechsten Tag schuf Gott mehrere Großkommentare, Zeitschriften und einheitliche Zitierregeln für den Hochschulraum. Am siebten Tag ruhte Gott, denn sie war sehr müde. Aber da die Bibliothekare und Juristen vom Baum der Erkenntnis(se) genascht hatten, zürnte Gott ihnen, und wollte sie bestrafen. Da die Heuschrecken, Frösche und Sintfluten gerade aus waren, musste Gott sich etwas anderes einfallen lassen.
Am achten Tag schuf Gott die Loseblattsammlungen.
Im Anfang war das Wort
Dieser Tage gab es auf Twitter einen heiteren Diskurs über den Ursprung der Loseblattsammlung, der speziell von einigen Verfassungsrechtlern befeuert wurde und schließlich sogar in Literaturzitaten über die Loseblattsammlung eskalierte.
Philosophiert wurde über die ersten Loseblattsammlungen und das psychologische Profil ihrer Erschaffer, Bezüge zu Rechtsgebieten wurden angeführt, und die Frage bedient, ob der leicht zwänglerische Charakter dieser Publikationsform eher der Schweiz oder den fleissigen Vorarlbergern zuzuschreiben sei.
Studierende wissen trotz regelmäßigen leidvollen Kontakts leider kaum mehr etwas mit dem Begriff anzufangen, deswegen sollte das Spiel „Loseblattsammlung“ kurz erklärt werden: Loseblattsammlungen sind Mappen, in die nach einem regelmäßigen und undurschaubaren Rhythmus Blätterkonvolute in Form von Ergänzungslieferungen eingelegt werden, um das Werk aktuell zu halten.
Ursprünglich war das eine durchaus verbreitete Mediensorte, die das großangelegte Neudrucken ganzer Werke bei nur geringfügigen Änderungen ersparen sollte. Warum sich das ausgerechnet in den Rechtswissenschaften solange gehalten hat, ist eigentlich nicht nachvollziehbar. Wir unterstellen hier einmal pure Boshaftigkeit der Verlage und Herausgeber.
Ein neues Spiel, ein neues Glück – da ist für alle was dabei!
„Loseblattsammlung“ spielt man jetzt so: Alle paar Wochen oder Monate, je nach aktueller Rechtsprechung, Lust und Laune der Verlage und dem Stand des Mondes und der Gestirne trifft ein neuer Packen Blätter ein, der in die Loseblattsammlung einzulegen ist. Dies hat an genau vorgeschriebenen Stellen zu erfolgen, die in einer Art Gebrauchsanweisung im IKEA Stil aufgeführt sind: Entnehmen Sie also nun Blatt 2b und ergänzen Sie an der Stelle die Teile 38a und 95b. Hier fängt das Drama schon an sich erheblich zuzuspitzen, denn Blatt 2b ist natürlich schon lange nicht mehr vorhanden, und muss insoferne auch nicht entnommen werden, und die Teile 38a und 95b sind in der Ergänzungslieferung nicht zu finden, falls sie denn überhaupt jemals existiert haben. Die feierliche Einlegung der neuen Ergänzungslieferung muss protokolarisch in dem nur in seltenen Glücksfällen vorhandenen „Standblatt“ am Anfang eines jeden Ordners eingetragen werden, damit nachfolgende Generationen wissen, was hier alles NICHT, VIELLEICHT oder auch TEILWEISE ergänzt wurde. Fertig ist man jedenfalls dann, wenn selbst für absolute Kenner der Materie nicht mehr zu begreifen ist, was das Werk nun eigentlich enthält. Irgendwann ist die Mappe schlicht nicht mehr pflegbar und das System ist irreparabel beschädigt, man sagt „Die Loseblattsammlung ist korrupt geworden!“.
Nun beginnt eine Art kalter Krieg zwischen Buchhändler und Bibliothek, bei dem meist von vornherein klar ist, wer gewinnen wird. Der Verlag sendet neue Ergänzungslieferungen aus, die Bibliothek ignoriert diese, da sie in dem aktuellen Werk ohnehin nicht mehr eingeordnet werden können. Aus Anstandsgründen und Trotz wartet man noch ein paar Monate zu, bis irgendjemand (meist die Bibliothek) bei dem Spiel die Nerven verliert, und ein neues Grundwerk bestellt wird (das man gerne zahlt, um wieder einige Nächte ruhig schlafen zu können). Zu diesem Zeitpunkt sind alle Betroffenen psychisch so zerrüttet, dass sie auch einen Lottogewinn ausgeben würden, um endlich Ruhe zu haben. Bis das Spiel von vorne losgeht.
Wenig erstaunlicherweise finden sich die Ursprünge dieser Foltermethode in jenem Rechtsgebiet wo alles Unheil der Menschheit verborgen liegt, im Steuerrecht. Man muss auch nicht erst extra erwähnen, dass dieses System für den Gebrauch im Publikumsverkehr an Bibliotheken denkbar ungeeignet ist..
Fällt der Ordner nämlich zu Boden (hoffentlich nur im geschlossenem Zustand), so verbiegt sich, zumindest bei „schwerwiegenden“ Loseblattsammlungen die Mechanik oft irreparabel, lässt sich also zB nicht mehr richtig schließen. Das merkt aber ohnehin erst der nächste Benutzer oder die nächste Benutzerin, wenn er oder sie das Werk hastig aus dem Regal zieht, den physikalischen Überblick über das halb offenstehende Loseblattwerk verliert, und nach kurzem, kaum hörbaren Fluchen (…) ein paar Seiten unterschiedlicher Gesetze vom Boden aufkratzt, und nun wirklich nicht auch noch die Zeit – und natürlich auch null Bock hat das Geblatt in der Hand so zu sortieren, wie es dem Herausgeber des Werkes gefiele. Von wegen! Für so etwas gibt es Bibliothekspersonal.
Martin Vonplon, Lose-Blattsammlungen. In: Recht, Bibliothek, Dokumentation, 25 (1995), H. 3, S. 135-141
Der Spaß bei Loseblattsammlungen muss in ihrem Glücksspielcharakter erkannt werden, man hat hier wie im Zivilrecht ein aleatorisches Moment. Nie kann man genau wissen, was darin ist, das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen!
Die Pathologie der Loseblattsammlung
Die Bibliothek Recht hostet aktuelle viele Hunderte von Loseblattsammlungen, und in einem Hinterzimmer lagern stets Stapel von Ergänzungslieferungen. Wir haben ein eigenes Fach auf dem „Problemfälle“ steht, und dieses ist immer gut gefüllt.
Unglücklicherweise kommen in Österreich die beiden großen Kommentare zum Bundesverfassungsrecht ausschließlich in Loseblattform auf den Markt, was einen gewissermaßen betroffen macht:
Regelmäßig kommen Studierende an den Schalter, die im BVG eine Kommentierung vermissen, und man hat dann oft seine liebe Not herauszufinden, ob das der Wahrheit entspricht, oder der betreffende Artikel einfach noch nicht kommentiert wurde. Hier gilt vorderhand, wie in jedem pathologischen Fall der gute alte Schaltersatz: Nehmen Sie den Patienten ernst. Aber lassen Sie sich nicht auf Diskussionen über den Wahrheitsgehalt seiner Aussage ein.
Die Liechtensteiner haben aus diesem Grund ein segensreiches Werk getan, und ihren Verfassungsrecht Kommentar in einer Art Open Access Variante ins Netz gestellt.
Loseblattsammlungen sind oft nur die Einstiegsdroge zu härteren Suchtmitteln – Fangen Sie gar nicht erst an!
Natürlich tut die Bibliothek ihr Möglichstes, um Loseblattsammlungen möglichst fern zu halten: Verlagskataloge werden mit einem dicken Durchgestrichen und „Ankauf verweigert aufgrund Loseblattforms!“ in Umlauf gebracht, mit einem kecken „online verfügbar“ und Häkchen versehen, oder überhaupt gleich eingezogen und makuliert. Als Bibliothek fühlen wir uns durchaus verpflichtet unsere Forscher vor diesen gefährlichen Suchtmitteln zu schützen. Leider hat das wissenschaftliche Personal hier auch ein Wörtchen mitzureden, und was das Herz der Wissenschaft begehrt, wer wären wir es zu verwehren? Das Ganze ist schon schlimm genug, wenn es sich in der Bibliothek abspielt. Manche Lehrstühle horten aber in Ihren Handapparaten zusätzliche, besonders geliebte Haus- und Hof-Loseblattsammlungen. Nun würde man glauben, dass diese Werke dort einigermaßen geschützt und besser pflegbar wären. Leider passiert es aber auch in Handapparaten, dass Loseblattsammlungen verwildern, und zur Aufzucht und Pflege in die Bibliothek retourniert werden, meist vor den Sommerferien.
Einzig nach langem Kampf eingestellt werden durfte der vielleicht schlimmste Fall einer Loseblattsammlung, das Niederösterreichische Landesrecht. Diese Mappen kommen mit eigenen ARCHIVMAPPEN, in die das entnommene Material jeweils ein- und umzulegen ist, weshalb ein Bibliothekar aus dem Haus sie völlig zu Recht als „EXTREMLoseblattsammlung“ bezeichnet hat. Angesichts dieses Blätterhaufens können auch wir nur mit Musils Mann ohne Eigenschaften sagen:
Hier stimmt etwas ganz grundsätzlich nicht!
Vor langer Zeit habe ich eine Streitschrift wider die Loseblattsammlung begonnen. Da als Fortsetzung gedacht, hat sie das Schicksal vieler Loseblätter ereilt, sie musste vorerst unvollendet bleiben..Lesen Sie an dieser Stelle stattdessen die Einlageblätter 8a bis z.
Einlageblätter 8a bis z
Streitschrift wider die Loseblattsammlung
EU verbietet Loseblattsammlungen – Beschluss zum 1. April
Verwahrloste Loseblattsammlungen an Raststätten ausgesetzt
Heimatlose Blätter suchen ein Zuhause